© Nicole Schneider

Auf dem Weg zum World Design Capital 2026

Was die Politik von Großherzog Ernst Ludwig lernen kann

Ein Meinungsartikel und Gastbeitrag von Prof. Georg-Christof Bertsch

Redaktionsassistenz: Sophia Gumbinger

Wir haben keine Bodenschätze – aber Kreativität

Nach dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine wird selbst dem letzten Klimamuffel klar, dass wir erneuerbare Energien brauchen – und zwar vor Ort. Aber auch jenseits von Energie – wir haben in unserer Region keine Bodenschätze. Doch wir haben Kreativität. Und darauf sollten wir als Wirtschaftsregion mehr, viel mehr setzen.

Doch erstmal ganz von vorne, denn diese Erkenntnis hatte auch schon Großherzog Ernst Ludwig von Hessen und bei Rhein bei seinem Amtsantritt 1892. Er setzte voll auf die Karte Kreativwirtschaft. Sein Motto war:

»Mein Hessenland blühe und in ihm die Künste.«

Großherzog Ernst Ludwig von Hessen und bei Rhein

Und mit Künste meinte er alles: von Lyrik über Möbeldesign bis High-Tech-Fahrzeugtechnologie.

Kreativhub statt Diplomatenrepublik

Heute ist der Großherzog Ernst Ludwig vor allem als Gründer der Mathildenhöhe in Darmstadt bekannt, einem Gebäudekomplex mit Landschaftspark und Museum. Die Mathildenhöhe wurde kürzlich zum UNESCO Weltkulturerbe gekürt – auf Basis der bewundernswerten Arbeit von einem Welterbe-Team (Land Hessen und Stadt Darmstadt), zu dem Dr. Philipp Gutbrod gezählt hat (lesen Sie hier ein kurzes Interview mit ihm).

Nun bewerben wir uns als Region um den Titel als World Design Capital 2026. Mir scheint dies ist ein guter Anlass, um die "best-practice" der Region Revue passieren zu lassen. Die wichtigsten politischen Figuren sind meines Erachtens Hilmar Hoffmann (1925-2018) als Nestor des Frankfurter Museumsufers; Ludwig Landmann (1868-1945) als Vater des Neuen Frankfurt – aber als dritter im Bunde, Landmanns Zeitgenosse Ernst Ludwig von Hessen und bei Rhein (1868-1937). Also: von den Großen lernen.

Was Ernst Ludwig wollte und was er erreicht hat

Ernst Ludwigs Ambition lag zunächst darin, einen internationalen Konferenz-Ort für die Diplomatie zu schaffen. Der Darmstädter gehörte schließlich zum globalen Hochadel. Queen Victoria (1819-1901) von Großbritannien und Kaiserin von Indien ist die Schlüsselfigur. Sie war die Großmutter von sowohl Ernst Ludwig als auch des deutschen Kaisers Wilhelm II. und der Zarin Alexandra Feodorowna von Russland.

Aus Ernst Ludwigs Plan – eine Art Genf & Davos in einem – wurde jedoch nichts, weil Kaiser Wilhelm II., sein Cousin, kein Interesse an dieser Art von Friedens-Politik hatte. Grob gesagt war die internationale Künstlerkolonie Plan B, weil Ernst Ludwig glaubte, damit – über Kunst, Design, Mode, Architektur – zur Völkerverständigung beitragen zu können.

Wunderbarerweise gelang ihm, die Besten nach Darmstadt zu holen, allen voran die mit ihm gleichaltrig jungen Joseph Maria Olbrich aus Wien und Peter Behrens aus München. Joseph Maria Olbrich wurde schnell zum inoffiziellen Führer der Künstlerkolonie und bezog das höchste Gehalt. Das ist so, als wenn heute gleichzeitig Philippe Starck, Herzog & de Meuron, Lady Gaga, Lord Norman Foster und Damien Hirst hierher ziehen würden. Und mit ihnen all die jungen Talente im Schlepptau. Das ist Benchmark. Nichts Geringeres.

Das Großherzogtum Hessen Darmstadt und bei Rhein

Ernst Ludwigs Großherzogtum Hessen Darmstadt hatte andere Grenzen als das heutige Hessen, welches nach dem 2. Weltkrieg von den Alliierten geschaffen wurde. Es umfasste – ganz grob gesprochen – Südhessen, das heute rheinland-pfälzische Rheinhessen sowie Teile Mittel- und Nordhessens. Darmstadt war die Hauptstadt. Besonders charakteristisch war, dass der Rhein mitten durch das Land floss, anstatt wie heute die Grenze zum Nachbarland zu bilden.

Abb. 1. Großherzogtum Hessen zur Zeit Ernst Ludwigs
© wikimedia.org
Abb. 1. Großherzogtum Hessen zur Zeit Ernst Ludwigs

Womit heizt man eine Ökonomie an, wenn man keine Rohstoffe hat?

Diese Idee war kein Spleen eines gelangweilten Adligen, sondern geht auf tiefe Reflexion zurück und sie betrifft uns – neben den aktuell brennenden Fragen europäischer Diplomatie – auch heute. Seine noble Verwandtschaft und die vielen Industriebarone der Zeit bauten auf Bodenschätze: Kohle und Eisen. Ernst Ludwig wusste von seinen Geologen, dass wir in Hessen und Rheinhessen darauf nicht zählen können. Was blieb also? Er entschied: Die Förderung der Kreativität. Und damit direkt verbunden: Die Förderung der Kreativ-Wirtschaft. Denn er sah, entgegen späteren Generationen, denen diese Einsicht verloren ging, überhaupt keine Trennung zwischen Hochkultur, angewandter Kunst, Design, Darstellender Kunst, Ingenieur-Kunst.

Die unter seinem Vater Ludwig IV. gegründete Technische Hochschule Darmstadt spielt für ihn daher dieselbe Rolle in dieser Mega-Strategie wie die Mathildenhöhe und der Bäderbezirk in Bad Nauheim.

Ingenieur-Kreativität zählte bei ihm zum Programm. Auch wir sollten hier keine Trennlinien ziehen.

Gleich wichtig schien ihm die die Förderung des bald größten Autoherstellers der Welt, Opel, der damals aufgrund seiner exzellenten Fahrzeuge exklusiver „kaiserlicher Hoflieferant für Automobile" war. Er fuhr stets die stärksten Fahrzeuge von Opel und nahm selbst an Autorennen teil. Für das neue Opernhaus in Darmstadt entwarf er höchstpersönlich Bühnenbilder. Er schrieb Bühnenstücke, die z.B. in Hamburg zur Aufführung kamen, entwarf Bühnenbilder, schrieb Lyrik, die verlegt und gelesen wurde.

Changierende Identitäten als Hintergrund einer kaleidoskopischen Kreativität.

Das Spektrum von Ernst Ludwigs Identitäten war riesig. Er präsentierte sich im weißen Smoking, aber auch mit der bei ihm wirklich befremdlichen Pickelhaube. Besonders auffällig ist jedoch sein Spiel mit sexuellen Identitäten. Das kess erhobene Beinchen im Tänzerkostüm im Kontrast zur Ästhetik als cooler Gentleman-Automobilist.

Abb. 2 Ernst Ludwig als Tänzer auf dem Renaissance Fest 1907 mit Gattin
© Signatur: HLA, HStAD, D 27 A Nr. 79/3
Abb. 2 Ernst Ludwig als Tänzer auf dem Renaissance Fest 1907 mit Gattin
Abb. 3 Ernst Ludwig vor seinem schwer motorisierten Opel, einem echten Geschoss der damaligen Fahrzeugtechnik
© Großherzogliches Familienarchiv im Staatsarchiv Darmstadt, D 27 B Nr. 588 UF
Abb. 3 Ernst Ludwig vor seinem schwer motorisierten Opel, einem echten Geschoss der damaligen Fahrzeugtechnik

Das Elend der Kleinstbetriebe

Was können wir daraus lernen? Was müssen wir daraus lernen? Wir stehen heute in unserer Region vor der Frage, was die langfristige Strategie des Landes im Rahmen der großen industriellen gesellschaftlichen Transformation sein soll.

Die Kreativindustrie spielt in den aktuellen politischen und strategischen Überlegungen eine Rolle, aber bei weitem nicht die Rolle, die sie spielen müsste. Die neuesten Zahlen besagten, dass die Kreativwirtschaft in Hessen 14,8 Milliarden Umsatz zur Wirtschaftskraft beiträgt. Typisch für die Kultur- und Kreativwirtschaft ist ein hoher Anteil an Ein-Personen-Unternehmen mit zum Teil einem Jahresumsatz von weniger als 17.500 Euro.

Mit dieser Zersplitterung hängt die relative Einflusslosigkeit des gesamten Wirtschaftszweiges zusammen. Diese Industrien haben keine starke Lobby wie etwa die Auto- oder Chemie-Industrie, die Einzelunternehmen von der Größe dieser gesamten Branche vorzuweisen haben. Die elf Teilmärkte sind: Werbemarkt, Designwirtschaft, Software- und Games-Industrie, Architekturmarkt, Buchmarkt, Pressemarkt, Rundfunkwirtschaft, Filmwirtschaft, Kunstmarkt, Markt für Darstellende Kunst, Musikwirtschaft.

100 Möbelfirmen auf Avantgarde trimmen

Genau hier können wir von Ernst Ludwig lernen. Zu seiner Zeit gab es in Darmstadt ca. 100 (!) Möbelfirmen. Die größte war die Firma Glückert. Glückert gehörte auch zu den Bauherren auf der Mathildenhöhe. Der Inhaber Heinrich Julius Glückert (1848-1911) wohnte dort, eine zweite Villa diente als Showroom der Firma. All diese Produzenten hatten vor der Zeit Ernst Ludwigs praktisch kein Design im Programm. Durch seine Initiative sind sie voll auf die Avantgarde der Künstlerkolonie aufgesprungen.

Sie haben einerseits die PR Ernst Ludwigs in Zusammenarbeit mit dem international aktiven Verleger Alexander Koch genutzt. Andererseits vernetzte Ernst Ludwig die Künstler derartig eng und mit Nachdruck mit den produzierenden Firmen, dass diese wirklich alles herstellten, was die Künstler entwarfen. Philipp Gutbrod: „Ich kenne keinen Fall, wo eine Firma gesagt hätte: Also das ist mir jetzt zu verrückt, wohl wissend, dass das teils Designs waren, die sich nicht phantastisch verkaufen würden, aber einen unbezahlbaren Imagegewinn erreichten.“

Dieser Druck zur Vernetzung ist etwas sehr Produktives. Auch der Glaube an die absolute Avantgarde, an Künstler von teils nur 19 oder 20 Jahren, ist dabei von zentraler Bedeutung. 

»Den ganz Jungen etwas zuzutrauen; diesen Leuten durch andauernden persönlichen Einsatz Industriekontakte zu verschaffen, das ist eine der zentralen Leistungen Ernst Ludwigs.«

Die Kreativ-Industrie als Zentrum der Politik. Wie kriegen wir das wieder hin?

Es gibt heute zwar gewisse Förderungen für die Kreativen, aber in einem sehr spärlichen Maße, nicht zu vergleichen mit dem Schwung eines Neuen Frankfurt oder eben Ernst Ludwigs. Die große Vision jedoch – aus unserem Land ein weltweites Zentrum der Kreativindustrien zu machen – die Ernst Ludwig bewegte, steht heute überhaupt noch nicht zur Disposition.

Das sollten wir ändern, denn dies ist ein ganz erheblicher Fehler. Wir haben immer noch keine Bodenschätze. Wir haben überdies keine Ahnung, wohin sich die Industrien entwickeln, die zu unserem aktuellen Wohlstand führen, zum Beispiel der Flughafen, die Banken? Was wird aus dem Flughafen unter der Maßgabe, dass der Flugverkehr drastisch reduziert werden MUSS, um den Pariser Klimazielen auch nur nahe kommen zu können? Was passiert mit den Banken, wenn sich eine weniger klimaschädliche Blockchain-artige Technologie durchsetzt? 

Das Einzige was wir sagen können ist, das Innovationsforschung – und dazu gehört auch kreative Forschung – an der aller vordersten Front für unsere Zukunft bedeutend sein wird.

An dieser Stelle sollten wir, da wo Ernst Ludwig vor 120 Jahren angefangen hat, weitermachen. Die Tatsache, dass die Darmstädter Mathildenhöhe zum UNESCO Weltkulturerbe erhoben wurde, hat bei uns noch die Diskussion um das Motiv zur Gründung der Mathildenhöhe in die Diskussion gebracht.

Wir brauchen Mut zu viel mehr Kreativität und zu viel mehr Investment in die Kreativschaffenden, um die nachhaltige Transformation zu schaffen.

Was wir brauchen ist ein Mut zur Kreativität, der erheblich über das hinausgeht was momentan noch weitgehend als „Lippenbekenntnisse“ verlautbart wird. Im Rahmen von Maßnahmen wie der Bewerbung und den Titel der Weltdesignhauptstadt für das Rhein-Main-Gebiet könnten solche Diskussionen beginnen.

Planungs- und Umsetzungszeiträume bemessen sich hier in Jahrzehnten. Aber wir können es uns nicht leisten, nicht auf Kreativität zu setzen. Wenn wir – hier wiederhole ich mich gerne – keine Bodenschätze, keine Ressourcen haben, die nicht aus dem kreativen Geist der Menschen kommen, brauchen wir sie umso mehr.

Es geht darum, Mut zur Zukunft nicht als politische Phrase zu verstehen, sondern ernst zu nehmen. Oder sagen wir mal „ernstludwig“ zu nehmen.

Die Illustratorin Nicole Schneider zeichnete 2020 das Porträt von Großherzog Ernst Ludwig für ihre Kalendertrilogie „Darmstädter*innen“. In dem Projekt wurden bekannte und weniger bekannte Darmstädter Persönlichkeiten aus den unterschiedlichsten Epochen u
© Nicole Schneider

Die Darmstädter Illustratorin Nicole Schneider zeichnete 2020 das Porträt von Großherzog Ernst Ludwig für ihre Kalendertrilogie "Darmstädter*innen". In dem Projekt wurden bekannte und weniger bekannte Darmstädter Persönlichkeiten aus den unterschiedlichsten Epochen und Gesellschaftsschichten vorgestellt – Menschen, die Mut machen und motivieren – weit über Darmstadt hinaus. Mehr unter: www.schneiderillustration.de 

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© Marie-Anny Bertsch

Professor Georg-Christof Bertsch

Prof. Georg-Christof Bertsch ist hessischer Unternehmer. Als Berater und Coach ist er seit 1995 mit seiner Firma BERTSCH.Brand Consultants im Bereich organisationale Identitätsentwicklung bei Post-merger-Integrationen tätig. Seit 2009 ist er in ehrenamtlicher Funktion als Honorarprofessor ohne Vergütung an der HfG Offenbach tätig. Dort gründete er die beiden Designinstitute dml – Designinstitut für Mobilität und Logistik (2014, zusammen mit Prof. Dr. Kai Vöckler und Prof. Peter Eckart) und IPPO – Internationale Projektplattform Offenbach (2011, zusammen mit Prof. Petra Kellner).

Er ist im Beirat des Deutschen Designer Club; Host des DDCAST-Podcast; Botschafter der German Design Graduates; Mitglied im Kuratorium des Museum WELTKULTUREN; Rotarier bei RC Friedensbrücke (Mitglied seit 2011, Paul Harris Fellow seit 2022).


Literatur

FRANZ, Eckhart, Hrg., Erinnertes, Aufzeichnungen des letzten Großherzogs Ernst Ludwig von Hessen und bei Rhein, Darmstadt, Eduard Roether, 1. Aufl., 1983

KNODT, Manfred, Ernst Ludwig Großherzog von Hessen und bei Rhein: Sein Leben und seine Zeit, Darmstadt, H.L. Schlapp, 1. Aufl., 1978

SABAIS, Heinz-Winfried, Hrg., Vom Geiste einer Stadt, Ein Darmstädter Lesebuch, Darmstadt, Eduard Reuther, 1. Aufl., 1956

Hessisches Ministerium für Wirtschaft, Energie, Verkehr und Wohnen, Hrg., Kreativität und Verantwortung. 6. Kultur- und Kreativwirtschafts-Bericht, 2021

Veröffentlicht: 24.03.2022


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