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© Magda Ehlers/Pexels

Kontinuität statt Haltungskitsch

Gastbeitrag von Peter Post

Im Jahr 1379 wurde in Oxford das New College gegründet. Sein Großer Saal, der sich auch in den Harry-Potter-Filmen gut gemacht hätte, wurde von riesigen Eichenbalken getragen. Als diese Balken in der Mitte des 19. Jahrhunderts erneuert werden mussten, ließen sich nirgendwo in der Umgebung Bäume der entsprechenden Größe finden. Schließlich stellte sich heraus, dass der Förster des Colleges sehr wohl die geeigneten Eichen für das Vorhaben hatte. Sie waren vor 500 Jahren von den Erbauern des Großen Saals für eben diesen Zweck in weiser Voraussicht gepflanzt worden. »You don’t cut them oaks, them’s for the College Hall.«

Diese Geschichte wird seit den Neunzigerjahren vor allem auf Technologiekonferenzen und in von Nachhaltigkeit begeisterten Zirkeln als Vorbild für nachhaltiges Denken und Handeln erzählt. Auch Projekte wie die »10.000-Year Clock« der Long Now Foundation sehen sich in dieser vornehmen Tradition einer über den Tag hinausdenkenden Weltsicht.

Das Dumme ist nur, dass die schöne Geschichte so nicht stattgefunden hat. Die Wahrheit ist profaner und gleichzeitig robuster als das Narrativ eines frühen Sustainability-Ordens. Tatsächlich wurden 1859 Schäden an den Balken der Großen Halle entdeckt, und 1862 wurde der Forstbetrieb dazu angefragt – dies allerdings nicht am Ende einer verzweifelten Suche, sondern im Rahmen der jährlichen und auch heute dort üblichen Inspektion der ­College-Besitzungen unter Leitung des Rektors. Es wurden dann aus dem Bestand die für eben solche Zwecke vorgesehenen, größten Eichen gefällt, und selbstverständlich wachsen auch heute in England Bäume für künftige große Aufgaben nach.

Mit anderen Worten: Es gab im Oxford des 14. Jahrhunderts ­keinen singulären Plan für eine in ferner Zukunft liegende, ­einmalige Renovierung – zumindest keinen, von dem wir heute wissen. Vielmehr machte die Forstverwaltung schon damals ­einfach nur ihre Arbeit und forstete kontinuierlich Mischwälder aus Eschen, Nussbäumen und Eichen auf, deren Nutzung für große und profane Aufgaben bis heute eine kulturelle und wirtschaftliche Selbstverständlichkeit ist.

Modern formuliert: Das College und die ihm zuarbeitende Forstwirtschaft agiert(e) redundant, im Sinne zusätzlicher gleicher Ressourcen, verließ sich auf Netzwerke und »Best Practices«, anstatt einen singulären Baum-Schatz zu hüten.

Wer einen Hammer hat, sieht überall Nägel. Manch ein profilierungssüchtiger Technologiemilliardär wird angesichts aktueller und absehbarer ökologischer wie auch ökonomischer Dramen nur schwer der Versuchung widerstehen können, »ein Zeichen zu setzen« und dabei gleich noch auf großer Bühne mit einer aufmerksamkeitsstarken Aktion abzuräumen. Der Glaube an die Zukunft wird beim gegenwärtigen Publikum per Paukenschlag eingefordert.

Auch in der Geschichte der Kreativbranche haben solche Meisterstücke ihren Platz. Auf großen Festivals werden brillante Ideen und deren handwerklich exzellente Exekution zelebriert, schließlich auch in eigenen Kategorien ausgezeichnet. Ein Zyni­ker würde hier mit Blick auf die Oxford Tales von prämierten Edelgewächsen sprechen, die davon ablenken sollen, dass im Kerngeschäft weiter das Billigholz für Bauverschalungen und Zahnstocher Umsatz bringt. Aber Zynismus ist ebenso unzeitgemäß wie Aktionismus. 

»Wir leben heute in einer Welt, in der Verantwortung nicht ­belächelt, sondern auf immer mehr Ebenen mitgedacht wird.«

Und gerade deshalb sollte das »Long Now«, das »Lange Jetzt«, sich nicht als Spektakel präsentieren, sondern evolu­tionär und pragmatisch.Wenn die Kreativwirtschaft es ernst meint mit Verantwortung und Nachhaltigkeit, hat sie dafür heute bessere Voraussetzungen als je zuvor. Drei Ansätze:

1. Verantwortung als »Neues Normal«

»Purpose« und »Public Value« dürfen nicht als Kreativ-Kategorien parzelliert und zelebriert werden. Vielmehr sollten sie – vom Briefing bis zur Erfolgsmessung – Teil des Anforderungskatalogs für jedes Projekt sein. Das wird beispielsweise bei Kampagnen dazu führen, dass nicht nur hohe Reichweite und Konversion ­gefordert, sondern auch die Erwartungen der Zielgruppe in Bezug auf ihre Privatsphäre übertroffen werden.

Und so neu ist dieses »Neue Normal« ja nicht. Ikonen des deutschen Designs wie Otl Aicher und der aus Wiesbaden stammende Dieter Rams haben schon vor Jahrzehnten Verantwortung ganz selbstverständlich in ihre Arbeit integriert; ohne Pomp und ­PR-Glitter, aber mit großem Erfolg – auch kommerziell.

2. Kreativität als Service

Würde die Kreativwirtschaft ihre Leistungen nicht »am Stück« verkaufen, sondern zugänglich machen, wäre sie über den ­Zahltag hinaus verantwortlich für deren Nutzen oder Schaden. Sie hätte dementsprechend ein intrinsisches Interesse an hochwertigen und langlebigen Leistungen, von denen nicht nur der Kunde, sondern auch Gesellschaft und Umwelt profitierten.

Es gäbe dann keine »Projekte« mehr, sondern Programme, die langfristig gedacht, betrieben und monetarisiert werden. Einige kreative Disziplinen wie das Produktdesign setzen schon auf ­entsprechende Modelle. Der Fahrradanbieter Swapfiets bietet beispielsweise seine Räder im Abo an und hat deshalb ein wirtschaftliches Interesse, sie robust und leicht reparierbar zu entwerfen. Auch für die Softwareindustrie sind solche Modelle inzwischen unverzichtbar. Ist es undenkbar, dass auch Grafik-, Marken- und Webdesigner so arbeiten? Hoffentlich nicht, denn auch die EU treibt die Kreislaufwirtschaft mit der klassischen Kombination aus Zuckerbrot und Peitsche (Fördermittel und Gesetzgebung) voran. Hier wird aus der Utopie »Produkt = Service« ein nachhaltiges Geschäftsmodell.

3. Verantwortung nicht als Last, sondern als ­Investition

»Hilf mir, es selbst zu tun!« – das Leitmotiv der Montessori-Päda­gogik könnte auch modernen Kreativen und ihren Auftraggebern ermöglichen, die Wirkung nachhaltiger Projekte »stromabwärts« zu vervielfachen.

Ein Produkt, dessen Herstellung höchsten Umweltstandards genügt, scheitert dennoch, wenn spätere Nutzer es nicht reparieren können. Es wird dann zu früh zu »Edel-Abfall«. Das darf und muss nicht sein. Die EU wird schon bald das »right to repair« in Gesetze gießen. Für Hersteller und Endkunden könnte dies – statt einer zusätzlichen Last – die Chance sein, Autarkie zu kultivieren. 

»Das alte Werbeversprechen eines »immer neu, immer besser«-Lifestyle wird zum »immer wieder, immer besser«, wenn wir lehren und lernen, dass Vertrautheit mit einem Produkt Gewinn bedeutet.«

Zum Besitz treten Kenntnis, Beherrschung, Freude an Erhalt und Investition in Form von »Upgrades« verschiedenster Art. Endkunden, Nutzer und Publikum werden von bloßen Adressaten zu Mitwirkenden.

Selbst wenn die schöne Geschichte der extra für die ferne Zukunft gepflanzten Eichen für das New College gestimmt hätte, wäre sie möglicherweise früh und unrühmlich zu Ende gegangen. Die lange gehüteten Bäume hätten am Ende eines trockenen Sommers abbrennen können. Und wären die im 19. Jahrhundert Verantwortlichen nicht beim Förster vorstellig geworden, hätten sie möglicherweise mit der modernen Technologie jener Zeit (Eisen und Stahl) die Halle ästhetisch ruiniert.

Ein Spektakel kann scheitern. Kontinuität hingegen verspricht Zukunft, auch wenn sie keine Awards bringt. In diesem größeren Rahmen kann jeder einzelne ­Kreative, jede Agentur und jede Organisation wirklich wirksam werden. Das »Lange Jetzt« sind wir. Und auf seine Früchte müssen wir nicht 500 Jahre warten. Sie können jeden Tag geerntet werden.


Peter Post
© Scholz & Volkmer

Peter Post

Geschäftsführer der Scholz & Volkmer GmbH

Peter Post hat Kommunikationsdesign in Wiesbaden studiert, danach zehn Jahre in den Niederlanden gearbeitet und ist seit 2006 bei Scholz & Volkmer, wo er heute als Geschäftsführer das UX Design verantwortet. Er hat gemeinsam mit Michael Volkmer die Nachhaltigkeitsstrategie der Agentur erarbeitet und entwickelt in diesem Bereich für Unternehmen Kommunikationsstrategien und Konzepte für die Kreislaufwirtschaft. Post ist aktiv als Vorsitzender des UX Design Awards, im Vorstand des Internationalen Design Zentrums sowie bei der Kuratierung und Moderation des Behavioural Design Camp und der see-Conference.


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